Henri Cartier-Bresson in Hamburg: Farbfotografie nur als berufliche Notwendigkeit (2024)

Ein trüber Tag in einem englischen Seebad: Ein kleiner Junge im Sonntagsstaat steht am Strand an der Hand seines Vaters. Während der Sohn sich verträumt den Lauf einer Spielzeugpistole in den Mund steckt, schaut sein Vater, im dicken Zopfmuster-Pullover, aufs Watt hinaus. Dort stehen – zwei Elefanten. Diese bizarre Konstellation, wie von Dalí oder Magritte komponiert, fing Henri Cartier-Bresson 1962 in Blackpool ein. Zu der Zeit war der Fotograf und Mitgründer der Agentur Magnum bereits ein international renommierter Fotoreporter, der für auflagenstarke Illustrierte wie „Life“, „Paris Match“ oder das „New York Times Magazine“ die Welt bereiste und politische Großereignisse ebenso wie den Alltag der Menschen dokumentierte.

Mit den Elefanten auf dem Schlick von Blackpool, die ebenfalls zu einer solchen fotojournalistischen Bildstrecke gehören, verweist Cartier-Bresson auf die surrealistischen Anfänge seines Schaffens. Zu Beginn der Dreißiger hatte sich der literarisch und künstlerisch interessierte Fabrikantensohn eine Leica-Kleinbildkamera gekauft, um damit zu experimentieren. Unter dem Einfluss André Bretons und Man Rays bildete sich sein Blick für verfremdende Per­spektiven und den „objektiven Zufall“ heraus, der das Disparate zusammenführt und die gewohnte Wahrnehmung aus den Angeln hebt – ein fotografisches Gespür, das er nie mehr verlieren sollte.

Vom „Neuen Sehen“ zur politischen Foto-Reportage

Das weitgefächerte Spektrum an Themen und Motiven, das Cartier-Bresson (1908 bis 2004) in seinem Werk abdeckt, dokumentiert jetzt mit 250 Schwarz-Weiß-Fotos aus den Dreißiger- bis Achtzigerjahren die Ausstellung „Watch! Watch! Watch!“ im Hamburger Bucerius Kunst Forum. Dem Motto der Schau, dem ein Zitat Cartier-Bressons zugrunde liegt, zu folgen, also die Bilder anzuschauen und dabei genau hinzuschauen, kann man allen fotografisch und zeithistorisch Interessierten nur ans Herz legen.

Der Bogen dieser ersten großen Retrospektive in Deutschland seit zwanzig Jahren, kundig kuratiert und kommentiert von dem Fotografiehistoriker Ulrich Pohlmann, spannt sich von Cartier-Bressons frühen Experimenten des „Neuen Sehens“ bis zu Porträts von Künstlerfreunden wie Henri Matisse, William Faulkner oder Truman Capote. Den Kern aber bilden Reportagen, die die vielen Facetten des dramatischen 20. Jahrhunderts einfangen: den Spanischen Bürgerkrieg, die Krönung des britischen Königs George VI. in London 1937, die Befreiung von Paris 1944, Gandhis Beisetzung 1948, das Ende der Kuomintang-Herrschaft in China 1948, Russland nach dem Tode Stalins 1953, Kuba nach der überstandenen Raketen-Krise von 1962.

Themen abseits hervorstechender politischer Ereignisse sind das Amerika der Rassentrennung, die Arbeitswelt der Fa­briken und das alltägliche Leben in den Großstädten, das Cartier-Bresson als flanierender „Straßenfotograf“ einfing. Die Gliederung der Schau mit ihren zehn Abteilungen spiegelt die thematischen Verzweigungen und verschafft den oft kleinformatigen Bildern die nötigen Räume, um sie zur Geltung zu bringen.

Viele der Fotos sind begleitet von den gedruckten Abbildungen in den Layouts der Illustrierten, die immer wieder vor Augen führen, dass Cartier-Bresson nicht als freischwebender Künstler, sondern als Journalist fotografierte. Die Arbeit in der Dunkelkammer war nicht seine Sache, die Ergebnisse seines Fotografierens sah er häufig erst, wenn die Bilder veröffentlicht waren. Deutlich wird in allen Abschnitten der Schau, was die Bilder von der üblichen Agenturproduktion abhebt: Es ist sein Gespür für den entscheidenden Augenblick, das sprechende Detail, das, abseits aller Sensationsfotografie, den Bildern ihre ästhetische Qualität verleiht und sie zu historischen Zeugnissen macht.

Trotz Kriegsgefangenschaft in Deutschland arbeitete er für deutsche Medien

Ein ambivalentes Verhältnis hatte Cartier-Bresson zu Deutschland, wo er als Kriegsgefangener und Zwangsarbeiter interniert war, bis ihm die Flucht nach Frankreich gelang. Gleichwohl arbeitete er von Beginn der Fünfziger an mit vielen westdeutschen Illustrierten und Zeitungen zusammen, die einen großen, heute weitgehend verschwundenen Markt für anspruchsvollen Fotojournalismus boten. In der Ausstellung sind Reportagefotos aus Hamburg – „Das westdeutsche New York“ titelte 1954 das amerikanische Magazin „Fortune“ –, vom Kölner Karneval und aus dem geteilten Berlin nach dem Mauerbau zu sehen. Unmittelbar nach Kriegsende fotografierte er in den deutschen Lagern der Displaced Persons. In Dessau gelang ihm eine besonders eindrückliche Bilderserie: Eine Frau erkennt eine Denunziantin und schlägt wutentbrannt auf sie ein. Am Ende wird die Verräterin, übel zugerichtet und gedemütigt, fortgetrieben.

Mehr zum Thema

Kluge WörterHinfort mit den hirnlosen Tintenklecksern
Bücher-PodcastWofür steht Nofretete? Sebastian Conrad und sein Buch „Die Königin“
Olaf Metzels Skulpturen in WeimarDeutschstunde aus Aluminium

Es sind Foto-Momente, die zeigen, wie die Täterin in die Rolle eines Opfers gerät. Der Humanismus, der hier und in vielen anderen Bildern erkennbar wird, war eine Triebfeder seiner Arbeit. Eine andere war sein Engagement für die politische Linke. Er, der sich nie als neutralen Journalisten sah, war zeitweilig der Kommunistischen Partei verbunden und verzichtete vorübergehend sogar auf den zweiten Teil seines Namens, um seine bourgeoise Herkunft zu verbergen. Als seine Reportage über die Sowjetunion nach Stalins Tod erschien, wurde ihm eine Beschönigung der Verhältnisse vorgeworfen. Tatsächlich sparen die Bilder politische Unterdrückung aus.

Cartier-Bresson zeigte als erster Fotograf aus dem Westen den sowjetischen Alltag

Es war der Preis dafür, dass er als Erster dem westlichen Publikum Einblicke in den sowjetischen Alltag – bummelnde Passanten, Arbeiter in der Kantine –bieten konnte, die inmitten des Kalten Krieges als sensationell wahrgenommen wurden. Doch Cartier-Bressons Blick auf die tiefgreifenden Zwänge, die die politische Macht auf das Leben der Menschen ausübt, wurde nicht durch ideologische Scheuklappen begrenzt. Das zeigt seine noch heute aktuell wirkende Reportage über das China Mao Tse-tungs, der jede Revolutionsromantik abgeht: „China opfert die Gegenwart der Zukunft – was für diejenigen, die damit leben müssen, sehr unangenehm ist. Und die ganze Zeit wird Propaganda betrieben. Die Menschen haben nicht einen Moment Ruhe. Es ist eine reglementierte Welt, und das kann sehr mühsam sein. Aber ich glaube, wir dürfen das nicht emotional sehen. Das hilft uns nicht, zu verstehen. Denn China ist ein Land, das die westliche Welt nicht ignorieren kann.“

Nicht vertreten in Hamburg ist die Farbfotografie, die er zwar auf Wunsch seiner Auftraggeber praktizierte, aber nur als „berufliche Notwendigkeit“ akzeptierte. Seinen Vorstellungen von Farbigkeit lagen die Maßstäbe der Malerei zugrunde. Die Farbfilme seiner Zeit genügten hingegen wegen ihrer technisch bedingten Begrenzungen weder seinen ästhetischen noch seinen journalistischen Ansprüchen. Für ihn als Fotograf war Grau die „Farbe aller Farben“.

Watch! Watch! Watch! Henri Cartier-Bresson. Bucerius Kunst Forum, Hamburg; bis zum 22. September. Der Katalog kostet 39,90 Euro.

Henri Cartier-Bresson in Hamburg: Farbfotografie nur als berufliche Notwendigkeit (2024)

References

Top Articles
Latest Posts
Article information

Author: Mr. See Jast

Last Updated:

Views: 6394

Rating: 4.4 / 5 (55 voted)

Reviews: 94% of readers found this page helpful

Author information

Name: Mr. See Jast

Birthday: 1999-07-30

Address: 8409 Megan Mountain, New Mathew, MT 44997-8193

Phone: +5023589614038

Job: Chief Executive

Hobby: Leather crafting, Flag Football, Candle making, Flying, Poi, Gunsmithing, Swimming

Introduction: My name is Mr. See Jast, I am a open, jolly, gorgeous, courageous, inexpensive, friendly, homely person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.