Leslie Jamison zählt zu den meistbeachteten Essayistinnen der vergangenen Jahre. Im Gespräch mit Carmen Eller erklärt die Amerikanerin, wie sie ihren persönlichen Stil entwickelt hat – und was das Schreiben mit der Internetplattform Second Life verbindet.
Carmen Eller
Frau Jamison, Ihr neuer Essayband hat drei Kapitel mit den Überschriften «Sehnen», «Schauen» und «Bleiben», denen die Essays zugeordnet sind. Welcher dieser drei Zustände war für Sie am schwersten in Worte zu fassen?
Ich denke, es ist am schwersten, über das Bleiben zu schreiben. Sehnen und Schauen beinhalten beide eine Distanz. Wir sehnen uns nach Dingen, die wir nicht haben. Und wenn wir etwas anschauen, ist es von uns entfernt. Das Getrenntsein macht es leichter, eine Sprache zu finden. Bleiben aber bedeutet, mittendrin zu sein. Und es kann schwerer sein, etwas zu sehen, wenn man sich darin befindet. Die Schriftstellerin Catherine Lacey, mit der ich befreundet bin, beschreibt die Herausforderung des persönlichen Schreibens so: das Bett zu machen, während man darin liegt.
Die Themen Ihrer Essays sind sehr divers: Begegnungen auf Reisen, Reinkarnation, Fotografie, Ihre eigene Familie. Welche Herausforderung ist grösser: über das eigene Leben zu schreiben oder über das von Fremden?
Die Herausforderungen sind sehr unterschiedlich. Wenn ich über Fremde schreibe, muss ich Wege finden, um in Gesprächen Räume zu schaffen, in denen ich nicht nur die oberflächliche Antwort bekomme, sondern die komplizierte. Die Herausforderungen beim Schreiben über das eigene Leben sind ein bisschen anders: extreme emotionale Voreingenommenheit, die Unmöglichkeit, objektiv zu sein. Die Tatsache, dass wir uns immer neu Tausende Geschichten über uns selbst erzählen. Und die Herausforderung, verzerrende Selbstmythen zu überwinden, um auf kompliziertere Versionen der Wahrheit zu stossen.
Wie erreichen Sie das?
Das hat viel mit dem Vergehen der Zeit und dem Prozess der Überarbeitung zu tun. Ich überarbeite meine Texte unter anderem deshalb so intensiv, weil der erste Entwurf häufig voller vereinfachender Versionen der Wahrheit steckt. Ich sehe diese als die co*cktailparty-Version einer Geschichte, als das, was man auf einer Party sagen würde, etwa über das Ende einer Beziehung oder das Verhältnis zum eigenen Vater. Es ist hilfreich, zunächst die unmittelbarste Version der Geschichte aufzuschreiben. Oft kann ich hören, wo es sich hohl anfühlt.
Was schliessen Sie daraus?
In unheimlichen Filmen gibt es manchmal diesen Moment, in dem jemand an eine Wand klopft und man hört, dass sie hohl ist. Das bedeutet, dass etwas dahinter liegt, ein geheimer Weg etwa oder geheime Zimmer. Wenn die Prosa in einem persönlichen Essay hohl, schal oder klischeehaft klingt, dann ist das so, als ob ich mir damit selbst sage: Es existiert ein ganzer Tunnel hinter diesem platten Satz. Dieser Tunnel wird mich an einen unordentlicheren Ort führen, und ihm muss ich folgen.
Sie beschreiben immer wieder sehr private Momente, etwa Szenen aus vergangenen Beziehungen, Ihre Gefühle als Stiefmutter oder Ihre Hochzeit in Las Vegas. Verändert das Schreiben über diese Erfahrungen die Art, wie Sie sich an diese erinnern?
Ja. Ich glaube, so funktioniert Erinnerung. Jedes Mal, wenn du denkst, eine Erinnerung abzurufen, veränderst du diese Erinnerung gleichzeitig oder strukturierst sie neu. Ich bin mir auch immer bewusst, dass es einen Unterschied gibt zwischen den Erfahrungen, die ich mache, und der Art, wie solche Erfahrungen in meinen Texten vorkommen. Das soll nicht heissen, dass es beabsichtigte Ungenauigkeiten gibt. Sondern eher, dass ich weiss: Für jede Geschichte, die ich erzähle, gibt es tausend Geschichten, die ich nicht erzählt habe.
Worüber würden Sie nicht schreiben?
Vieles, über das ich nicht schreiben würde, hat mehr mit dem Leben anderer Menschen zu tun als mit meinem eigenen. Es gibt Arten von Schmerz, die aus dem Leben anderer Menschen kommen. Manchmal zeigt sich der Schmerz anderer Menschen in meiner Arbeit. Für Schmerz sind wir gemeinsam verantwortlich, andere Menschen haben etwas damit zu tun. Und es ist niemals Selbstzweck, über mein Leben zu schreiben, es geht nie um Enthüllung oder Entblössung. Ich sehe es so: Was wir erleben, wird zu einem riesigen Archiv aus Erinnerungen, Details, emotionalen Verwicklungen. Alle Schriftstellerinnen und Schriftsteller bedienen sich daraus. Die einen, um Lyrik zu schreiben, die anderen für Prosa. Und manche schreiben darüber in Form einer persönlichen Erzählung.
War Ihr Stil des persönlichen Schreibens eine bewusste Entscheidung, oder hat sich das so entwickelt?
Das war definitiv nicht geplant. Viele Jahre lang sah ich mich als Belletristik-Autorin. Mein erstes Buch in den USA, «Der Gin-Trailer», war ein Roman. Ich konnte sehen, wie meine persönliche Erfahrung in den Roman Eingang fand. Aber ich hatte nie die Absicht, persönliche Essays oder Memoirs zu schreiben. Es hatte damit zu tun, dass ich durch den Essay eine Form des Schreibens entdeckte, die mich begeistert hat.
Inzwischen sind Sie besonders bekannt für Ihre Essays. Was zieht Sie zu dieser Textform?
Es ist diese Art hybriden Schreibens, die Kritik – Kulturkritik, Literaturkritik –, Interviews und Recherche zusammenbringt, womit dann noch die persönliche Erzählung verbunden wird. Diese Kombination, diese Synergie macht es spannend für mich. Eine frühe Erfahrung, aufgrund der ich mich für die Möglichkeiten persönlichen kritischen Schreibens begeisterte, war der Titelessay in meinem Buch «Die Empathie-Tests». Darin schrieb ich über mich als Patienten-Darstellerin und meine eigenen medizinischen Erfahrungen, eine Herzoperation und eine Abtreibung. Und ich las wissenschaftliche Studien darüber, was Empathie bedeutet. Ich hatte das Gefühl: Persönlich und kritisch zu schreiben, ist viel aufschlussreicher, als sich nur auf eines von beidem zu beschränken.
Warum?
Wenn ich versuchte, Versionen dieses Essays zu schreiben, die eher nur kritisch waren, wurde es nie so lebendig und ehrlich. Das Persönliche macht den Text nicht nur ansprechender und emotionaler. Ich denke, wenn man mit persönlicher Erfahrung in rigoroser Weise umgeht, ist man gezwungen, nuancierter und schärfer zu denken. Denn man kann sich dann nicht nur im Abstrakten aufhalten; man muss sich damit beschäftigen, wie sich eine Erfahrung konkret ausgewirkt hat.
In Ihrem Essay über die Internetplattform Second Life schreiben Sie am Ende: «Egal, welches Leben wir führen, der Drang, es zu verlassen, gehört immer dazu – durch Tagträume; durch Geschichten.» Ist das Schreiben für Sie auch eine Art Second Life?
Manchmal schon. Während der Arbeit an diesem Essay habe ich mich darum bemüht, die Vorstellung aufzubrechen, reales Leben sei das, was offline passiert, und Fake-Life das, was online, etwa mit dem Avatar von jemandem, passiert. Ich wollte darüber nachdenken, wie diese digitale Inszenierung von Tagträumen oder unserer Phantasie Teil unseres Selbst ist. Es ist eine Art, sich auszudrücken, ein Akt der Selbstschöpfung.
Im Zusammenhang mit Second Life beschreiben Sie faszinierende Beispiele: Eine kinderlose Frau gründet eine Familie, Erwachsene spielen Kinder, die in virtuellen Familien leben. Eine berufstätige Mutter «stellt sich den Wecker auf halb sechs, um in ein Leben zu schlüpfen, in dem sie den Luxus hat, nicht aufstehen zu müssen».
Die Beschäftigung mit anderen möglichen Leben ist eine meiner tiefen Faszinationen, als Mensch und als Schriftstellerin. Es ist ein Aspekt, der mich zur Auseinandersetzung mit Second Life angeregt hat, einer Technologie, die einen Raum geschaffen hat, in dem Menschen mit alternativen Versionen ihrer selbst agieren können – selbst mit phantastischen oder physisch unmöglichen Versionen. Mein Essay über das «Museum der gebrochenen Herzen» ist ein anderer Weg, darüber nachzudenken, wie sich Menschen mit anderen möglichen Versionen ihres Lebens beschäftigen. Denn was bedeutet es, über zerbrochene Beziehungen nachzudenken, wenn nicht, über andere mögliche Leben nachzudenken, die sich nicht realisiert haben?
Die Corona-Pandemie hat uns selbst einfache Vergnügungen wie Partys oder Besuche im Café unmöglich gemacht. Erlebt die Plattform Second Life, die vielleicht schon etwas in Vergessenheit geraten ist, dadurch jetzt selbst ein zweites Leben?
Ich weiss nicht, ob wegen der Pandemie tatsächlich mehr Menschen auf dieser Plattform Second Life sind. Ich weiss aber, wenn ich jetzt mal für mich selbst spreche: Meine Vorstellung davon, was für eine Art von Gemeinschaft online möglich ist, hat sich völlig verändert.
Inwiefern?
Da gibt es den Zoom-Room als Ort für Erholung, den Zoom-Room als Unterrichtsraum. Zu Beginn der Pandemie nahmen Freunde und ich Gedichte als Audio-Voice-Messages auf und schickten sie uns gegenseitig. Das war zu einem Zeitpunkt in der Pandemie, als ich nur meine Tochter sah, die damals zwei Jahre alt war. Ich habe mich so allein gefühlt. Und diese Freunde, die Gedichte lasen, bildeten eine Art Gesellschaft, die ich mir vorher so nicht hätte vorstellen können.
Ihr Buch «Die Empathie-Tests» begann mit einem Essay, in dem Sie auch über Ihre Abtreibung schrieben. Ihr neuer Essayband endet mit der Geschichte der Geburt Ihrer Tochter und den Worten «Da warst du: eine Ankunft, ein Schrei, der Anfang einer neuen Welt.» Da scheint sich ein Kreis zu schliessen.
Ja, ich betrachte das Ende dieses Bands, der mit einem Essay über Schwangerschaft und Geburt abschliesst, als Ende einer Ära meines Schreibens. Meine Bücher sind Teil dieser ersten Ära. Ich glaube, ich bin jetzt mitten in einer anderen Ära, in der ich über Mutterschaft und Fürsorge, künstlerisches Schaffen und Elternschaft nachdenke. Über Fragen wie: Was bedeutet es, zugleich Mutter und Tochter zu sein? Wie prägt die Art, wie wir erzogen wurden, die Art, wie wir erziehen? Wie Sie wissen: Zu gebären, ist erst der Anfang.
Gefeierte Essayistin
cmd. · Die Schriftstellerin Leslie Jamison wurde 1983 in Washington, D. C. geboren und wuchs in Los Angeles auf. Bekannt wurde sie mit ihrem Essayband «Die Empathie-Tests. Über Einfühlung und das Leiden anderer» (dt. 2015). Sie ist die Autorin des Memoirs «Die Klarheit. Alkohol, Rausch und die Geschichten der Genesung» (dt. 2018) sowie des Romans «Der Gin-Trailer» (dt. 2019). Die deutschen Übersetzungen sind alle beim Verlag Hanser Berlin erschienen, dort ist diesen Frühling auch ihre jüngste Essaysammlung herausgekommen: «Es muss schreien, es muss brennen» (320 S., Fr. 36.90). Jamison schreibt unter anderem für die «New York Times», «The Atlantic» und «Harper’s» und leitet das Non-Fiction-Programm der Columbia University. Sie lebt mit ihrer Familie in New York.
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